Heinrich Ritzel

Vertrieben – angekommen- Heimat gefunden

Die Geschichte einer Familie, die aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Erzählt von Heinrich Ritzel.

„Ich wurde am 31.12.1929 in Bonyhád/Ungarn geboren und lebte dort bis zu meinem 16. Lebensjahr mit meinen Eltern Josef und Katharina Ritzel sowie meinen Geschwistern Magda, Käthe, Josef und Adam.

Meine Vorfahren waren Deutsche und mein Vater arbeitete während des Krieges, noch bevor die russische Armee einmarschierte, in Westfalen im Bergbau weil er in Ungarn keine Arbeit fand.

Mein älterer Bruder Josef wurde zum deutschen Militär einberufen und meine Schwester Käthe ist bereits 1942 ausgereist und arbeitete in Stuttgart bei Salamander.

Im November 1945 marschierte die russische Armee in Ungarn ein. Da wir Ungarndeutsche waren, blühte uns die Ausweisung. Bei uns zu Hause wurde deutsch gesprochen, wie bei vielen Familien in unserem Dorf denn viele in Bonyhád waren Ungarndeutsche.

Am 01.06.1946 war es dann soweit: wir wurden ausgewiesen.

Die ungarische Regierung teilte uns 2-3 Tage vorher mit, dass wir abgeholt werden. Jeder durfte 20kg Gepäck bei sich führen. In den 20kg mussten wir alles Wichtige verstauen und natürlich auch genügend Lebensmittel für die lange Reise ins Ungewisse, denn keiner wusste so richtig wo es hingeht. Deutschland – das war wohl unser Ziel.

So kam es, dass fast ein ganzes Dorf zu Heimatvertriebenen wurde. Wie gesagt, wir mussten nicht flüchten, sondern wurden vertrieben.

Nur meine Schwester Magda durfte bleiben, da sie bereits verheiratet war und das mit einem Ungarn. Sie durfte unser Haus in dem wir bisher lebten vom ungarischen Staat erwerben und konnte dort bleiben.

Wir wurden mit Pferdekutschen abgeholt und viele, viele von uns mussten die ca. 4 km zum Bahnhof laufen.

Der durch unsere Ausweisung frei gewordene Wohnraum wurde wiederum an Ausgewiesene aus Rumänien (Rumänienungarn) vergeben.

Am Bahnhof wurden wir alle in Viehwaggons verladen und es ging sofort los.

Hier war alles vertreten Frauen, Männer, alte Menschen und Kinder. Das große Tor des Waggons wurde etwas offen gelassen und wenn das Wetter es erlaubte, haben die jungen Männer auf dem Dach des Waggons gesessen. Wohlgemerkt während der Fahrt. Natürlich war die Geschwindigkeit eine andere als heute.

In Mauer – Öhling (Amstetten/Niederösterreich) war erst einmal Stopp. Weil niemand wusste wohin mit uns, standen wir hier für ca. 8 Tage auf dem Güterbahnhof.

Wenigstens mussten wir nicht hungern, denn es wurde geschlachtet, bevor die Ausweisung vollzogen wurde und alles was ging mitgenommen. Zur Erinnerung: jeder konnte 20 kg Gepäck mitnehmen.

Nach ca. 8 Tagen ging es dann weiter und Endstation war Wächtersbach/Bahnhof. Hier wurden wir auf LKW´s verteilt und mit diesen ging es dann zur Wegscheide/Bad Orb.

– Wir hatten Mitte Juni 1946 –

Hier lebten wir in Baracken, in denen zuvor russische Gefangene untergebracht waren. Wir wurden entlaust und ich war das erste Mal bei einem Arzt.

3 Wochen verbrachten wir auf der Wegscheide, einige Menschen starben hier, ich war damals gerade einmal 16 Jahre alt.

Den Friedhof gibt es heute noch und hin und wieder zieht es mich dorthin.

Dann begann die Verteilung der Menschen auf Dörfer im Altkreis Gelnhausen und den Vogelsbergkreis.

Mit einigen anderen Vertriebenen stiegen meine Eltern, mein Bruder Adam und ich wieder einmal auf einen LKW und wir wurden mit diesem nach Neudorf gebracht.

Die erste Anlaufstation aller Vertriebenen, heute würde man eventuell Auffanglager sagen, war die Gaststätte ‚Kromm‘. Auf dem Anwesen gab es einen großen Saal, dieser wurde eigentlich für Dorffeste genutzt. Nun fanden hier die Menschen, die keine Heimat mehr hatten, eine Notunterkunft.

Der Bürgermeister Franz Seitz, mit dem damaligen Gemeinderat (Otto Schröder, Georg Simon und Anton Klein) kamen und holten die jungen Leute ab. Sie liefen mit uns durchs Dorf und wir wurden auf verschiedene Familien im Ort verteilt, in der Regel waren dies landwirtschaftliche Betriebe.

Nicht jede Familie war gewillt jemanden aufzunehmen.

Familie Wilhelm Werth mit ihrem landwirtschaftlichen Betrieb in der Aufenauer Straße 15 (heute Haus Alfred Walter), nahmen mich auf und ich half in der Landwirtschaft, dafür hatte ich Kost und Logis frei.

Es waren sehr liebe Menschen und ich wurde von Frau Werth wie ein eigener Sohn behandelt. Es gab nie ein böses Wort, auch wenn das Aufstehen einmal schwer fiel. Mein Bruder Adam kam bei Kalbert´s (Kress, August) unter.

Die Eltern blieben im Saal und wurden ebenfalls nach und nach verteilt.

Meine Eltern waren bis zum Eintreten des Frostes dort untergebracht, dann sind sie bei der Familie Wilhelm Kistner (heute Dewald) untergekommen. Sie konnten hier 2 Zimmer bewohnen. Nach geraumer Zeit zog dort auch mein Bruder Adam und mein Bruder Josef, der aus Westfalen kam, ein.

Ich blieb weiterhin bei der Familie Werth. Nach 2 Jahren, es war 1948, gab es die Währungsreform und ich fing bei der Firma Budde in Wächtersbach an zu arbeiten. Es war ein Sägewerk und ich habe dort Langholz gefahren.

Von der Neudorfer Jugend sind wir sehr gut aufgenommen worden. Es haben sich Freundschaften gebildet, die bis heute andauern, bzw. andauerten.

Alfred Seitz, Konrad Werth, Rudi Werth, Rudolf Metzler und Friedel Seitz um nur einige zu nennen, gehörten zu denen, mit denen ich damals eine gute Freundschaft begann.

Leider leben die meisten der hier aufgezählten nicht mehr, aber ich bin sehr froh, dass es sie gab. Da ich durch meine Arbeit bei der Firma Budde leider nicht mehr in der Landwirtschaft der Familie Werth helfen konnte, bin ich ebenfalls zu meinen Eltern in die 2 Zimmer gezogen. Dann wurde von der Gemeinde Bauland ausgewiesen, damit Wohnraum für die vielen Menschen geschaffen werden konnte.

Auch unsere Familie erwarb Grund und Boden und begann mit dem Bau unseres Hauses, das ich heute noch bewohne.

Jedes Familienmitglied musste mithelfen und seinen Verdienst beisteuern.

Alle Häuser in der Salmünsterer Straße hatten den gleichen Architekten, das war günstiger und deshalb haben all diese Häuser die gleiche Häuserform.

Damals bauten hier Adam Becker (heute Sattler), Wir (Ritzel) und Lössel (Franz Volkmer/Bachmann). Dann kam noch Paller dazu.

Heute kann ich sagen, dass ich hier meine Heimat gefunden habe!!