Inge Beer, verh. Reinold

„Wir waren damals die ersten Heimatvertriebenen, die nach Neudorf kamen.“

Durch Zufall die neue Heimat gefunden!

…am 24.5.2019 festgehalten und mit Hinweisen ergänzt von Frank Schneider

„Unsere Familie wohnte in Bad Kunnersdorf, einem Kurort (seit 1901) und Moorbad im Sudetenland.“

[„Lázně Kundratice (deutsch: Bad Kunnersdorf) ist ein Ortsteil der Stadt Osečná (deutsch: Oschnitz) in Tschechien. Von 1938 bis 1945 gehörte Bad Kunnersdorf zum Landkreis Reichenberg im Reichsgau Sudetenland. Während des Zweiten Weltkriegs war es ein Reservelazarett der deutschen Wehrmacht.]

„Es war großes Glück, dass unser Vater den Krieg unversehrt überstanden hatte und wir freuten uns alle sehr, als er wieder zu Hause ankam. Er war bei Kriegsende von Linz a. d. Donau ca. 300 km nach Hause gelaufen.

Doch die Freude war nicht von langer Dauer!

Am 24. Juli 1945 erschienen die Tschechen gegen 24 Uhr bei unseren Eltern und verlangten, daß wir um 6 Uhr in der Früh unser Haus, Hof und Heimat zu verlassen hatten. Die Eltern mussten noch unterschreiben, dass sie das freiwillig machten. Das Haus wurde umstellt. Außer einigen Habseligkeiten durften keine Wertsachen mitgenommen werden!

Alle Deutschen aus dem Dorf mussten sich um 6 Uhr auf einer Wiese bei unserem Dorf einfinden. (Es gab damals nur drei tschechische Familien im Dorf.)“

[Hinweis 1: HJB 2002 S. 33 – 34: ‚Nach der Potsdamer Konferenz der Siegermächte vom 17. Juli bis 2. August 1945 und den dort gefassten Beschlüssen begann die planmäßige Ausweisung der Deutschen aus Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und weiteren Ostgebieten. Der alliierte Kontrollrat erstellte einen Verteilerschlüssel für 6,65 Millionen Menschen, …‘]

„Wir: die Eltern Willibald Beer und Marie Beer geb. Ludwig, die Töchter Helga 4 Jahre und ich mit 12 Jahren sowie unsere Oma machten uns mit den anderen auf den Weg zum ca. 40 km entfernten Zittau. Ältere Leute und Kinder durften auf Pferdewagen fahren, alle anderen mussten laufen.

In Zittau wurden wir mit anderen Heimatvertriebenen für einige Tage in einer Turnhalle untergebracht. In dieser Zeit ließ sich mein Vater eine Bescheinigung, die uns später noch sehr geholfen hatte, von der Kommandantur ausstellen. Sie war in drei Sprachen abgefasst und besagte, daß wir in den Westen wollten. Wir mussten unsere Flucht selbst organisieren und so kamen wir erst einmal nach ca. 400 km in Thüringen, bei einem Bauern in Sondershausen bei Kirchengel unter. Dort arbeiteten die Eltern in der Landwirtschaft für Unterkunft und Verpflegung.

Unsere Oma konnte bei Verwandtschaft in Hoyerswerda unterkommen. Wir wollten jedoch weiter nach dem Westen, um nicht den Russen in die Hände zu fallen. Vom Bürgermeister erfuhren wir von einem Transport in den Westen. Im November 1945 gelangten wir so in einem Viehwagon nach Frankfurt am Main. In Karben konnten wir nur für kurze Zeit unterkommen, deshalb fuhr unser Vater nach Hof zu Bekannten, aber auch dort gab es auch keine Unterkunft für uns. Auf der Rückfahrt im Zug unterhielt sich mein Vater mit einem Mitreisenden aus Frankfurt, vermutlich ein Angler. Dieser erzählte ihm von Neudorf und dem Heim vom Anglerverein ‚Westend‘. Er solle doch mal eine Frau Mucha nach Unterkunft fragen.

[Hinweis 2: Frau Mucha war in Frankfurt ausgebombt, wohnte bei Familie Klein in Neudorf und kümmerte sich um das Anglerheim des Angler Clubs Westend (ACW).]

Also auf nach Neudorf! Frau Mucha stellte Kontakt zu Bürgermeister Franz Seitz (1945 – 1947) her und der quartierte unsere Familie im Dezember 1945 bei der Familie von Schuster Franz Metzler (Opa von Doris Metzler, verh. Knobloch) ein. Wir waren dort zuerst in einem Zimmer, später in zwei Zimmern unter dem Dach untergebracht. Familie Metzler war anfangs nicht gerade begeistert über unsere Einquartierung, aber schon zu Weihnachten 1945 wurden wir zum Essen eingeladen.“

[Hinweis 3: Wie groß die Not in dieser Zeit auch im Altkreis Gelnhausen war, mag ein Aufruf des Landrates und der Hilfsorganisation Caritasverband, Innere Mission, Rotes Kreuz und Arbeiterwohlfahrt verdeutlichen, der bereits am 6. November an die Bevölkerung erging. Ein Auszug: ‚Eine große Anzahl unschuldiger Menschen, meist Frauen und Kinder, Alte und Kranke, pochen an unsere Tür und bitten um Hilfe in ihrer Not und ihrem Elend. Wir haben diese aus der Heimat Vertriebenen, um Hab und Gut gebrachten Menschen aufzunehmen und mit dem Nötigsten zu versorgen.‘]

„Mir blieb in Erinnerung, dass die Nachbarin auf der anderen Straßenseite – Frau Maria Seitz- öfters auf der Straße stand und mir zurief: ‚Kannste mer mal am Brunne Wasser hole?‘

Oder wenn der Robert aus Aufenau die Milch einsammelte, dann rief er am Dalles:

‚Miele, die Milch eraus!‘

Unser Vater war als Viehhändler und Metzger für Kleintiere tätig und konnte etwa 1948 ein Grundstück mit zwei Behelfsheimen und einem dazwischenliegenden Schuppen (heute Birkenstraße 13) erwerben. Er war oft mit dem Motorrad unterwegs und transportierte kleinere Tiere, wie z. B. Ziegen in seinem Rucksack, so berichtet Frau Eva Distel aus Weilers.

Später, etwa 1953/54 verkauften wir dieses Gelände  an die Eltern von Josef König, die dort ein Haus bauten. Wir erwarben das Elternhaus von Otto Schröder mit der Hausnr. 7 (später: Hauptstraße 13; heute: Aufenauer 19), der seinerseits „Am Rosengarten 14“ ein neues Haus errichtete.

Ich heiratete 1957 meinen Mann Josef Reinold. Als das Haus in der Aufenauerstr.19 umgebaut wurde, zog ich für 3 Jahre zu meinem Mann nach Witten.

Meine Schwester Helga heiratete 1961 Rudolf Hach aus Hesseldorf. Sie bauten sich ein Haus in der Turmstraße 15.

Auf dem Weg zur Arbeit auf dem Landratsamt in Gelnhausen ereignete sich leider ein schwerer Verkehrsunfall. Unter den Folgen leidet meine Schwester noch heute.

Zur Geburt meines zweiten Kindes wurde ich von H. Joffroy nach Bad Orb ins Krankenhaus gefahren. Wegen Hochwasser stand die Straße über Kinzighausen nach Aufenau unter Wasser und wir blieben dort stecken. Zum Glück kamen wir nach einiger Zeit doch noch durch und rechtzeitig nach Bad Orb.

Unser Vater war eine Frohnatur und im damaligen Theaterverein aktiv. Bei einem Auftritt hatte er zum Beispiel seinen Text vergessen und hatte damit einen großen Lacherfolg beim Publikum.

Wir waren damals die ersten Heimatvertriebenen, die nach Neudorf kamen. Es sollten noch mehrere hier eine neue Heimat finden!

Das nebenstehende Bild zeigt von links: Einen Besucher, Marie Beer – unsere Mutter – mit Hund „Flocki“, Willibald Beer, Tochter Inge und Helga.